Ihr-Recht-Blog

27. September 2022

BGH zum Streitwert einer Klage auf ordnungsgemäße Nebenkostenabrechnung

Begehrt ein Mieter mit dem Rechtsmittel eine Verurteilung des Vermieters zur Erteilung einer ordnungsgemäßen Nebenkostenabrechnung, bemisst sich der Wert des geltend gemachten Beschwerdegegenstands gemäß §§ 2, 3 ZPO nach dem Interesse des Mieters an einem sich möglicherweise aus der Abrechnung ergebenden Rückzahlungsanspruch. Da der Mieter jedoch nur einen vorbereitenden Anspruch auf Rechnungslegung und damit auf Auskunft geltend macht, ist lediglich ein Bruchteil des Zahlungsanspruchs in Ansatz zu bringen (vgl. BGH Beschluss vom 10. Januar 2017 – VIII ZR 98/16 – MDR 2017, 725 Rn. 19 mwN; vgl. auch Senatsbeschluss vom 16. Mai 2018 – XII ZB 80/18 – FamRZ 2018, 1169 Rn. 11 mwN – zu § 1379 BGB). Insoweit gilt für Mietverhältnisse über Gewerberäume derselbe Maßstab wie bei Wohnräumen.

Der BGH hat nunmehr in seiner Entscheidung vom 24.08.2022, Az. XII ZB 548/20 unter Zugrundelegung der vorstehenden Grundsätze die Bemessung mit einem Viertel des Anspruchs des Rückzahlungsbetrages als nicht rechtsfehlerhaft bezeichnet.

Im Übrigen sei das vom Berufungsgericht bei der Bemessung des Werts der Beschwer gemäß § 3 ZPO ausgeübte tatrichterliche Ermessen im Rechtsbeschwerdeverfahren nur eingeschränkt darauf zu überprüfen, ob das Berufungsgericht die gesetzlichen Grenzen überschritten oder sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat (Senatsbeschluss vom 13. November 2019 – XII ZB 382/19 – NJW-RR 2020, 136 Rn. 9 mwN). Dabei halte sich der Ansatz eines Bruchteiles von einem Zehntel bis zu einem Viertel des Leistungsanspruchs im Rahmen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.

21. September 2022

OLG Frankfurt zur Vorkenntnis beim Maklervertrag

Für das Zustandekommen des Maklervertrags genügt das Anbieten des Objekts unter Hinweis auf die Provisionspflicht, wenn der Interessent sich Objektangaben geben lässt und die Maklerdienste in Anspruch nimmt. Wendet der Interessent eine bestehende Vorkenntnis ein, so hat er dies dem Makler mitzuteilen (OLG Frankfurt, Urteil vom 06.07.2022, Az. 13 U 84/21).

Das Zustandekommen eines Maklervertrages setzt übereinstimmende Willenserklärungen des Maklers und des Interessenten im Sinne von Angebot und Annahme gemäß §§ 145 ff. BGB voraus, die auf den Abschluss eines Maklervertrages im Sinne des § 652 Abs. 1 BGB gerichtet sind. Erforderlich ist somit bei jedem der Beteiligten ein Verhalten, das als entsprechende Willenserklärung im Sinne eines Angebots bzw. einer Annahme gewertet werden kann. Hierbei wird ein Angebot des Maklers häufig in der Übermittlung eines Exposes mit Provisionsverlangen zu erblicken sein. Demgegenüber liegt allein darin, dass ein Interessent sich Maklerleistungen gefallen lässt, noch nicht notwendigerweise eine Willenserklärung dahingehend, dass er mit dem Makler in Vertragsbeziehung treten möchte (vgl. BGH, NJW 84, 232; BGH, Urt. v. 23.10.1980, Az. IVa ZR 27/08 – WM 80, 1396 m.w.N.). Erforderlich ist auf Seiten des Interessenten für die Annahme des Zustandekommens eines Maklervertrages nämlich mindestens, dass er Maklerdienste entgegennimmt und dabei weiß oder wissen muss, dass der Makler hierfür von ihm bei Abschluss des beabsichtigten Hauptvertrages eine Vergütung verlangen wird (Köln, WM 89, 693). Dem Verhalten eines Interessenten kommt immer dann bei der Prüfung des Zustandekommens eines Maklervertrages ein rechtsgeschäftlicher Erklärungswert im Sinne eines Vertragsangebots oder einer Vertragsannahme zu, wenn er – wie vorliegend – aufgrund eindeutiger Hinweise von einer Entgeltpflicht der für ihn erbrachten Leistung ausgehen muss (BGH, NJW 17, 1024), was insbesondere dann gilt, wenn er weitere Maklerleistungen nachfragt (BGH, NJW-RR 10, 257) oder deutlich erkennbar gegen Entgelt angebotene Dienste in Anspruch nimmt (BGH, NJW 86, 177, 05, 3779).

Der BGH hat insbesondere dann, wenn der Interessent von einem eindeutigen und ausdrücklichen Provisionsverlangen des Maklers Kenntnis hat, wie hier, und sich unter Bezug auf die Anzeige beim Makler meldet oder Maklerleistungen, wie zum Beispiel einen Besichtigungstermin nachfragt (BGH, NJW 17, 1024) bzw. in Anspruch nimmt (BGH, NJW-RR 99, 361, 07, 499), das Zustandekommen eines Maklervertrages angenommen. Von einem Maklervertrag ist somit immer dann auszugehen, wenn der Makler – hier die Klägerin – ein Grundstück unter Hinweis auf die Provisionspflicht anbietet und ein Interessent – hier die Beklagte – sich Objektangaben machen lässt und weitere Maklerdienste in Anspruch nimmt (vgl. bereits BGH in NJW 67, 1365). Dies gilt nach der obergerichtlichen Rechtsprechung auch für eine Anzeige im Internet (vgl. Hamm, NJW-RR, 13, 170).

Vom Zustandekommen des Maklervertrages ist der für die Entstehung des Provisionsanspruchs zusätzlich erforderliche Kausalzusammenhang zwischen den erbrachten Maklerleistungen und dem Vertragsschluss zu unterscheiden. Allerdings muss die vom Makler entfaltete Nachweis- oder Vermittlungstätigkeit für den Abschluss des bzw. der Hauptverträge nicht allein oder gar hauptsächlich, sondern lediglich mitursächlich geworden sein (BGH, NJW-RR 88, 942).

Im vorliegenden Fall hatte das Landgericht als erstinstanzliches Vorgericht verkannt, dass die Vermutungsregelung hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Maklerleistung und dem Zustandekommen der Hauptverträge nach der Rechtsprechung des BGH gilt, weshalb es im Weiteren, auf der Grundlage seiner unzutreffenden Rechtsansicht, insoweit folgerichtig, die Beweislast zu Unrecht der Klägerin aufgebürdet hat.

Richtigerweise hätte das Landgericht den ursächlichen Zusammenhang zwischen den Maklerleistungen und dem Zustandekommen der Verträge, die nach der Rechtsprechung des BGH geltende Vermutungsregel für die Ursächlichkeit annehmen müssen, da die Hauptverträge in einem angemessenen Zeitraum nach der Maklertätigkeit unstreitig abgeschlossen worden sind. Die vom BGH insoweit entwickelten Grundsätze gelten sowohl für die vorliegend zum Tragen kommende Maklernachweistätigkeit (BGH NJW 06, 3062) als auch im Grundsatz für – eine vorliegend nicht streitgegenständliche – Vermittlungstätigkeit (Zweibrücken, NJW-RR 99, 1502).

12. September 2022

OLG München zur Kündigung eines Bauvertrages per Mail

Die Kündigung eines Bauvertrags ist schriftlich zu erklären. Die Kündigungserklärung muss vom Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichnet werden. Mit einer Kündigungserklärung per E-Mail mit angehängter pdf-Datei wird das Schriftformerfordernis nicht gewahrt.

Hierauf hat das OLG München mit Beschluss vom 03.02.2022, Az. 28 U 3344/21 Bau hingewiesen.

Gemäß § 8 Abs. 6 VOB/B ist die Kündigung schriftlich zu erklären. Gemäß § 126 Abs. 1 BGB ist in den Fällen, in denen durch Gesetz schriftliche Form vorgeschrieben ist, die Urkunde vom Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens zu unterzeichnen.

Bei der VOB/B handelt es sich nicht um ein Gesetz, sondern um Allgemeine Geschäftsbedingungen, weshalb § 8 Abs. 6 VOB/B keine gesetzliche Formvorgabe darstellt, so das OLG. Dieser Umstand führte nach altem Recht, also vor Inkrafttreten von § 650h BGB, dazu, dass § 127 Abs. 2 BGB anwendbar war, wonach zur Wahrung der durch Rechtsgeschäft bestimmten schriftlichen Form auch die telekommunikative Übermittlung, also auch die Übermittlung per E-Mail genügte.

Allerdings enthält § 650h BGB für nach dem 31.12.2017 abgeschlossene Bauverträge eine entsprechende Regelung, wonach die Kündigung des Bauvertrags der Schriftform bedarf. Hierbei handelt es sich um eine gesetzliche Formvorgabe.

Der Senat schließt sich der in Ingenstau/Korbion, VOB Teile A und B, Kommentar, 21. Auflage 2020, § 8 Abs. 6 VOB/B, Rn. 3 vertretenen Auffassung an, wonach angesichts dieser neuen gesetzlichen Formvorgabe eine telekommunikative Übermittlung nicht mehr ausreichend ist.

Bei dem im vorliegenden Fall zwischen den Parteien geschlossenen Bauvertrag vom 5./28.2.2019 handelt es sich um einen Bauvertrag im Sinne § 650a Abs. 1 BGB, auf den § 650h BGB und damit § 126 Abs. 1 BGB Anwendung findet, so das OLG München.

7. September 2022

BGH zur Überprüfung der Berufungsbegründungsfrist durch das Berufungsgericht

Das Berufungsgericht hat gem. § 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO von Amts wegen zu prüfen, ob die Frist zur Begründung der Berufung gewahrt worden ist. Erst nach Ausschöpfung aller erschließbaren Erkenntnisse gehen etwa noch vorhandene Zweifel zu Lasten des Rechtsmittelführers (BGH, Beschluss vom 13.07.2022 – VII ZB 29/21 im Anschluss an BGH, Beschluss vom 14.02.2017 – XI ZR 283/16, IBRRS 2017, 1375).

In dem der aktuellen Entscheidung des BGH zugrundeliegenden Sachverhalt nimmt der Kläger die Beklagte auf Schadensersatz im Zusammenhang mit einem bei einem Autohaus als Neuwagen im Januar 2015 erworbenen Pkw VW Tiguan Sport & Style 2.0 TDI in Anspruch.

Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 22. Dezember 2020 abgewiesen. Unter dem Datum vom 23. Dezember 2020 hat die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle (im Folgenden: Urkundsbeamtin) die Übersendung einer beglaubigten Abschrift des Urteils an die Prozessbevollmächtigten der Parteien handschriftlich in der Akte vermerkt. Aus den zur Akte gelangten Empfangsbekenntnissen der beiden Prozessbevollmächtigten ist hingegen der 22. Dezember 2020 als Empfangsdatum für die Zustellung des Urteils zu entnehmen.

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 12. Januar 2021, eingegangen beim Berufungsgericht am selben Tag, hat der Kläger Berufung gegen das „am 22.12.2020 verkündete und am 23.12.2020 zugestellte Urteil“ eingelegt. Mit am 23. Februar 2021 eingegangenem Schriftsatz hat der klägerische Prozessbevollmächtigte erstmalig beantragt, wegen Arbeitsüberlastung die Frist zur Berufungsbegründung bis zum 23. März 2021 zu verlängern. Mit Verfügung vom 24. Februar 2021 hat der Vorsitzende des Berufungssenats darauf hingewiesen, dass er die Berufung derzeit für unzulässig halte, da die Berufungsbegründung nicht fristgerecht eingegangen sei. Das Urteil sei dem klägerischen Prozessbevollmächtigten ausweislich des bei der Akte befindlichen Empfangsbekenntnisses am 22. Dezember 2020 zugestellt worden, sodass die Berufungsbegründungsfrist mit Ablauf des 22. Februar 2021 geendet habe. Das Fristverlängerungsersuchen sei erst am 23. Februar 2021 und damit nach Ablauf der Frist eingegangen.

Mit einem beim Berufungsgericht am 10. März 2021 eingegangenen anwaltlichen Schriftsatz hat der Kläger erklärt, das Urteil sei erst am 23. Dezember 2020 zugestellt worden, was sich bereits dadurch zeige, dass es erst am 23. Dezember 2020 beglaubigt worden sei. Zum Beweis hat er die auf diesen Tag datierte Empfangsbestätigung, das (erst) am 23. Dezember 2020 beglaubigte Urteil des Landgerichts sowie das auf diesen Tag datierte Anschreiben der Urkundsbeamtin, das zusammen mit dem Urteil zugestellt worden ist, vorgelegt. Mit einem beim Berufungsgericht am 23. März 2021 eingegangenen anwaltlichen Schriftsatz hat der Kläger seine Berufung begründet.

Auf Anordnung des Vorsitzenden des Berufungssenats hat sodann eine Geschäftsstellenmitarbeiterin bei der Urkundsbeamtin des Landgerichts telefonisch eine Stellungnahme zu den Vorgängen der Zustellung des landgerichtlichen Urteils eingeholt. Ausweislich des in der Akte befindlichen Vermerks vom 24. März 2021 ist durch diese telefonisch mitgeteilt worden, aus der EDV sei ersichtlich, „dass das Urteil vom 22.12.2020 (vermutlich wegen EDV-Störungen) 2x elektronisch zugestellt wurde“, nämlich „am 22.12.2020, 14:56 Uhr“, und „am 23.12.2020, 10:30 Uhr“.

Den Inhalt dieses Vermerks hat das Berufungsgericht den Parteivertretern mit Schreiben vom 24. März 2021 mitgeteilt und Gelegenheit zur Stellungnahme gewährt. Des Weiteren hat es darauf hingewiesen, dass eine wirksame erste Zustellung für den Fristbeginn auch dann maßgebend sei, wenn später erneut zugestellt werde.

Mit einem per Fax am 24. März 2021 an das Berufungsgericht übermittelten Schreiben vom selben Tage hat die Urkundsbeamtin des Landgerichts zwei EDV-Ausdrucke übersandt, aus denen sich eine zweimalige Versendung des Urteils ergeben solle. Ergänzend hat sie ausgeführt, dass es in letzter Zeit leider häufiger vorkomme, dass die elektronische Übermittlung nicht immer funktioniere und das Dokument „gelb“ (= nicht gesendet) hinterlegt sei. Am nächsten Tag werde der Ausgang nochmals geprüft und das Dokument, sollte dieses noch immer nicht versandt sein, erneut versendet.

Mit Beschluss vom 13. April 2021 hat das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig verworfen, da die Berufungsbegründung nicht innerhalb der Frist eingegangen sei. Das Urteil sei ausweislich des bei der Akte befindlichen Empfangsbekenntnisses am 22. Dezember 2020 zugestellt worden, sodass die Frist am 22. Februar 2021 geendet habe. Die Berufungsbegründung sei jedoch erst am 23. März 2021 bei Gericht eingegangen. Dem Fristverlängerungsantrag sei keine Folge zu geben, da er ebenfalls erst nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist eingegangen sei. Der nochmaligen Zustellung des Urteils am 23. Dezember 2021 komme keine entscheidungserhebliche Bedeutung zu, da eine wirksame erste Zustellung für den Fristbeginn auch dann maßgebend sei, wenn später erneut zugestellt werde.

Nach Rückkehr der Akte zum Landgericht hat die dortige Urkundsbeamtin am 26. April 2021 nach erneuter Prüfung des Sachverhalts anhand des Akteninhalts eine weitere Stellungnahme gefertigt. Hiernach sei am 22. Dezember 2020 „versehentlich zusammen mit dem Protokoll ein in der Akte befindlicher Urteilsentwurf versendet [worden], der z.B. auch noch nicht den aktuellen Kilometerstand enthielt.“ Mit Mitteilung vom 22. Dezember 2020 habe sie die Kanzleien des Kläger- und des Beklagtenvertreters „per beA von dem Missgeschick“ unterrichtet und ihnen mitgeteilt, „dass der Urteilsentwurf vernichtet werden soll und dass das tatsächlich erlassene Urteil zusammen mit dem Protokoll umgehend erneut zugesendet wird.“ Dies habe sie dann am 23. Dezember 2020 erledigt. Das Empfangsbekenntnis für dieses Urteil sei per beA eingegangen, „wurde jedoch nicht zur Akte genommen.“ Nachdem die Geschäftsstelle des Berufungsgerichts sie am 24. März 2021 telefonisch nach der genauen Zustellung gefragt habe, habe sie anhand der beA-Ausgänge gesehen, dass zweimal eine Zustellung erfolgt sei. Sie habe allerdings „irrtümlicherweise“ gedacht, „dass dies durch einen technischen Fehler passiert sei,“ was sie der Mitarbeiterin der Geschäftsstelle des Berufungsgerichts auch so mitgeteilt habe. Der tatsächliche Vorgang sei ihr in diesem Moment „entfallen“. Die an die Kanzleien übersandte Mitteilung vom 22. Dezember 2020 habe sie dabei leider übersehen.

Mit seiner Rechtsbeschwerde wendet sich der Kläger erfolgreich gegen den Verwerfungsbeschluss des Berufungsgerichts.

Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerhaft angenommen, die Berufung sei unzulässig, weil der Fristverlängerungsantrag des Klägers erst nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist (§ 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO) eingegangen sei. Das Berufungsgericht hat die Rechtzeitigkeit des Eingangs dieses Antrags nicht ausreichend aufgeklärt, so der BGH.

Das Berufungsgericht hat gemäß § 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO von Amts wegen zu prüfen, ob die Frist zur Begründung der Berufung gewahrt worden ist. Gleiches gilt im Hinblick auf die in diesem Zusammenhang nicht abtrennbare Frage, ob der Berufungsführer rechtzeitig einen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist gestellt hat. Bei der Prüfung ist das Berufungsgericht nicht an die förmlichen Beweismittel des Zivilprozesses gebunden, vielmehr gilt der Grundsatz des Freibeweises (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 – VII ZB 52/21 unter 3. a) z.V.b.; BGH, Beschluss vom 22. Dezember 2011 – VII ZB 35/11 Rn. 9, BauR 2012, 677; zum Prüfungsmaßstab vgl. auch BGH, Beschluss vom 14. Februar 2017 – XI ZR 283/16 Rn. 13). Allerdings bleibt es auch im Rahmen des Freibeweises dabei, dass der dem Rechtsmittelführer obliegende Beweis für die rechtzeitige Einlegung und Begründung des Rechtsmittels zur vollen, den Anforderungen des § 286 ZPO genügenden Überzeugung des Gerichts geführt sein muss (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Dezember 2011 – VII ZB 35/11 Rn. 9, BauR 2012, 677). Erst nach Ausschöpfung aller erschließbaren Erkenntnisse gehen etwa noch vorhandene Zweifel zu Lasten des Rechtsmittelführers (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Februar 2017 – XI ZR 283/16 Rn. 13).

Nach diesen Maßstäben durfte das Berufungsgericht nicht bereits auf der Grundlage der telefonischen und sich hieran anschließenden schriftlichen Auskunft der Urkundsbeamtin die Berufung als unzulässig verwerfen und den Antrag des Klägers auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist als verspätet ansehen. Das Berufungsgericht hatte zuvor nicht alle erschließbaren Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft.

Das Berufungsgericht hätte es nicht bei der telefonischen Rückfrage belassen dürfen, sondern hätte die Akte zum Zwecke der genauen Prüfung und Rekonstruktion der Vorgänge durch die Urkundsbeamtin an diese übersenden müssen.

Die auf telefonische Nachfrage ergangene mündliche wie die sich anschließende schriftliche Auskunft der Urkundsbeamtin vom 24. März 2021 waren nicht geeignet, die aus der Akte ersichtlichen Unstimmigkeiten in Bezug auf die Zustellung des Urteils aufzuklären. Aus ihnen erschloss sich insbesondere nicht, weshalb der Prozessbevollmächtigte des Klägers ein erst am 23. Dezember 2020 beglaubigtes Urteil vorgelegt hat. Denn wäre das Urteil, wie die Urkundsbeamtin in ihrer Stellungnahme am 24. März 2021 angegeben hat, bereits am 22. Dezember 2020 zugestellt worden, hätte es ein auf diesen Tag datierendes Beglaubigungsdatum tragen müssen (vgl. § 317 Abs. 1 Satz 1, § 169 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Hieran hätte auch eine erneute Zustellung des Urteils am Folgetag mangels Einfluss auf das bereits vorhandene Beglaubigungsdatum nichts ändern können. Ebenfalls unaufgeklärt geblieben ist, weshalb die Urkundsbeamtin in der Akte handschriftlich den Erledigungsvermerk, mit dem sie die Übersendung der beglaubigten Abschrift des Urteils bestätigt hat, auf den 23. Dezember 2020 und nicht auf den 22. Dezember 2020 datiert hat.

Weiter haben die telefonische Auskunft sowie das sich anschließende, an das Berufungsgericht übersandte Schreiben der Urkundsbeamtin Unklarheiten und Widersprüche aufgewiesen, die dem Berufungsgericht Veranlassung zu einer weiteren Aufklärung hätten geben müssen. Die Urkundsbeamtin hat mündlich auf den Anruf der Geschäftsstellenmitarbeiterin des Berufungsgerichts mitgeteilt, dass eine zweifache Übersendung des Urteils „vermutlich“ aufgrund von technischen Probleme erfolgt sei. Schriftlich hat die Urkundsbeamtin weiter angegeben, dass in letzter Zeit die elektronische Übermittlung nicht immer funktioniert habe und das Dokument in einem solchen Fall „gelb“ (= nicht gesendet) hinterlegt sei, sie am nächsten Tag den Ausgang nochmals prüfe und das Dokument, sollte dieses noch immer noch versandt sein, erneut versende. Das Berufungsgericht hat nicht berücksichtigt, dass eine zweifach erfolgreiche Übersendung des Urteils nicht auf einer technischen Störung beruhen kann. Denn nach der Stellungnahme der Urkundsbeamtin erfolgt eine zweite Versendung nur dann, wenn die erste fehlgeschlagen ist.

Der BGH hat die angefochtene Entscheidung aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden (§ 577 Abs. 5 ZPO), weil der Rechtsstreit in der Hauptsache nicht zur Endentscheidung reif ist.


1. September 2022

Aktuell: BGH zum Vermerk des Zustellungsdatums

Filed under: Verfahrensrecht — Schlagwörter: , , , , , , , , , , — ihrrecht @ 12:21

Vermerkt der Zusteller entgegen § 3 Abs. 2 VwZG, § 180 Satz 3 ZPO auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks das Datum der Zustellung nicht, gilt das Dokument gemäß § 8 VwZG erst in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist.

Der BGH hat sich in seinem Beschluss vom 29.07.2022, Az. AnwZ (Brfg) 28/20 der Auffassung angeschlossen, wonach es sich bei § 180 Satz 3 ZPO um eine zwingende Zustellungsvorschrift handelt, so dass bei einem Verstoß hiergegen das Schriftstück gemäß § 189 ZPO und § 8 VwZG erst im Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs als zugestellt gilt (vgl. BFH, Großer Senat, NJW 2014, 2524 Rn. 63 ff. mwN; BFH, DStR 2015, 2824 Rn. 17 ff.; BFH, Beschluss vom 15. Mai 2020 – IX B 119/19 mwN; Schwarz in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Stand: November 2021, § 3 VwZG Rn. 94a; Gräber/Stapperfend, FGO, 9. Aufl., § 53 Rn. 97; Czybulka/Kluckert in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl., § 56 Rn. 81; Schenk in Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Januar 2020, § 56 Rn. 74; Lampe in KK-OWiG, 5. Aufl., § 51 Rn. 35; Preisner in BeckOK OWiG, Stand: 1. April 2022, § 3 VwZG Rn. 27).

Die bislang ebenfalls vertretene Ansicht, wonach die Zustellung mit dem Zeitpunkt der Einlegung in den Briefkasten wirksam sein soll (vgl. VGH Mannheim, VBlBW 2016, 328 f.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 1. August 2018 – 2 Rb 8 Ss 387/18; OVG Schleswig, NJW 2020, 633 Rn. 5; Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 4. März 2021- 3 Sa 45/20; Stein/Jonas/Roth, ZPO, 23. Aufl., § 180 Rn. 4; Zöller/ Schultzky, ZPO, 34. Aufl., § 180 Rn. 9; Wieczorek/Schütze/Rohe, ZPO, 4. Aufl., § 180 Rn. 11; Ronellenfitsch in BeckOK VwVfG, Stand: 1. Oktober 2019, § 3 VwZG Rn. 42; Smollich in Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl., § 3 VwZG Rn.15), wurde vom BGH abgelehnt.

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